Labor für Erinnerungsforschung und digitale Methoden
In enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Physik der Universidad de Antioquia (Medellín, Kolumbien) wird das Labor die sozialen Netzwerke, Erinnerungsforschung sowie den Konsum von Unterhaltungsmedien als Gesamtgefüge analysieren. Dafür werden digitale Forschungsmethoden (E-Research) angewandt, um große Datenmengen (Big Data) aus den sozialen Netzwerken neben Interviews, Transkriptionen ausgewählter Telenovelas und der Presse als Quellenkorpus für das Forschungsprojekt nutzbar zu machen. Das Labor wird automatisierte Systeme zur maschinellen Verarbeitung natürlicher Sprache (Natural Language Processing, NLP) in der Gedächtnis- und Geschichtsbewusstseinsforschung zum Einsatz bringen und damit zur Entwicklung einer innovativen Methodik beitragen, die es erlaubt, folgende Aspekte innerhalb des digitalen Korpus zu identifizieren, quantifizieren und analysieren:
- Aufnahme und Verarbeitung von Inhalten der Telenovelas durch die Zuschauerschaft;
- Beeinflussung des Geschichtsbewusstseins der Zuschauerschaft;
- Dimensionen, Umfang und Trends der Transnationalisierung der von diesen Telenovelas generierten Erinnerungsbilder
- Auswirkungen auf die politische Bildung der Zuschauerschaft.
Um sich diesen vier Aspekten in einem ersten Schritt anzunähern, werden Methoden und Algorithmen der künstlichen Intelligenz eingesetzt, um kognitive Agenten (cognitive agents) zu entwickeln, die die Analyse von großen Datenvolumen erfassen und automatisieren können. Kognitive Agenten (KA) basieren auf evidenzbasiertem Denken (evidence-based reasoning, EBR), das im Mittelpunkt von Problemlösungs- und Entscheidungsaufgaben in einer Vielzahl von Bereichen, z. B. den Naturwissenschaften, Cybersicherheit, Archäologie oder Friedensforschung steht. Kognitive Agenten erleichtern dabei nicht nur die quantitative Bewertung des Quellenkorpus, sondern ergänzen darüber hinaus ihre qualitative Bewertung und visualisieren die Verhaltensdynamiken von sozialen Netzwerken. Der methodische Einsatz von kognitiven Agenten wird durch die stetig anwachsenden Datenmengen auch in Zukunft für die Geschichtswissenschaften immer wichtiger sein, da die Analyse von digitalen Quellen mit bisherigen Methoden nicht mehr zu bewältigen ist. Dadurch wird auch die Formulierung neuer Forschungsfragen angestoßen. Das Labor setzt es sich daher auch zum Ziel, neue digitale Methoden für die historische Forschung zu entwickeln.
Für dieses Forschungsvorhaben werden vier kognitive Agenten programmiert. Diese orientieren sich an den Deskriptoren, die aus interdisziplinärer Zusammenarbeit und Forschung, theoretischen Ansätzen zum Geschichtsbewusstsein und Gedächtnisstudien sowie der politischen Bildung entwickelt wurden. Die Entwicklung der Deskriptoren wird auf den bereits erhobenen empirischen Materialien (aus Forschungsergebnissen zu Chile, Kolumbien und Brasilien) sowie auf den im Projekt zu erhebenden Datensätzen basieren. Des Weiteren werden Ansätze aus der kommunikationswissenschaftlichen Rezeptionsforschung und Forschungsbeiträge zur politischen Bildung in der Zivilgesellschaft herangezogen, die zu einem besseren Verständnis des Einflusses der Unterhaltungsmedien auf die politische Bildung der Bürger*innen beitragen.
Weiterführende Literatur
Dörner, A. 2016. „Politserien: Unterhaltsame Blicke auf die Hinterbühnen der Politik“. Aus Politik und Zeitgeschichte. 66 (51): 4–11.
Koeman, V. 2019. “Tools for Developing Cognitive Agents”. https://doi.org/10.4233/uuid:f80750ee-db68-480e-8c58-2c167bd24ee5
Jensen, K. (Hg.) 2012. A Handbook of Media and Communication Research. Qualitative and Quantitative Methodologies. London: Routledge.
Schulze Wessel, M. 2017. „Der Angriff des Populismus auf die Geschichte. Weshalb ein kritisches Geschichtsbewusstsein für die Demokratie unerlässlich ist“ Analysen & Argumente, Konrad Adenauer Stiftung, 256.
Tecuci, G.,Marcu, D., Mihai B., David S. 2019. “Toward a Computational Theory of Evidence-Based Reasoning for Instructable Cognitive Agents”. arXiv:1910.03990 [cs.AI]