Fallstudien
Die Menschen in Lateinamerika erfahren heutzutage vor allem über den Konsum von Populärkultur etwas über die Geschichte ihrer Länder, üblicherweise durch Telenovelas. In den letzten zehn Jahren wurden viele Serien produziert, die sich mit Aspekten der Zeitgeschichte befassen, darunter die Menschenrechtsverletzungen während der Militärregime in Argentinien, Brasilien und Chile, der kolumbianische bewaffnete Konflikt, der Kampf gegen den Drogenhandel in Kolumbien und Mexiko oder die Entstehung des Chavismus in Venezuela. Einige dieser Produktionen haben großes Aufsehen erregt und den Anstoß zur Entwicklung neuer Serien auf On Demand-Plattformen wie Netflix gegeben. Dieser Typ von Telenovela wird als telenovela de la memoria (dt. „Telenovela der Erinnerung”) bezeichnet. Im Zentrum dieser Telenovelas stehen historische Ereignisse aus der jüngeren Vergangenheit, an die sich ein Großteil der Zuschauerschaft direkt erinnern kann oder die über die Erzählungen von Angehörigen im familiären Gedächtnis geblieben sind. Die narrative Bedeutung dieser Telenovelas für die Zuschauerschaft ist maßgeblich durch die Beschaffenheit des Erinnerns bestimmt, in der historisches Erzählen und Geschichtsbewusstsein aufeinander treffen.
Vor diesem Hintergrund untersucht das Projekt die Vermittlung von historischem Wissen, die Konstruktion von Erinnerungen durch Unterhaltungsmedien sowie deren Rezeption. Als Fallstudien wurden Brasilien, Chile und Kolumbien ausgewählt, wobei nicht nur die Untersuchung der nationalen, sondern auch transnationalen Rezeption von Telenovelas, u. a. in Migranten-Communitys, zentraler Teil der Forschungsprojekte ist. Konkret geht es um die Frage, wie das Geschichtsbewusstsein der Zuschauer*innen durch die Darstellung von Zeitgeschichte in diesen Formaten beeinflusst wird und welche Konsequenzen dies für die Entwicklung der politischen Bildung in verschiedenen Bevölkerungsgruppen hat. Die drei Länder befinden sich derzeit in einem politischen Umbruch, bei dem die Verhandlung ihrer jüngsten Vergangenheit im Fokus der Diskussion steht. In Chile und Brasilien befindet sich der Streit um die Erinnerung an die Militärdiktaturen im Brennpunkt schwerer innenpolitischer Auseinandersetzungen. In Kolumbien wird der zwischen 2012 und 2016 erfolgte Friedensprozess durch die jüngsten Gewaltexzesse wieder in Frage gestellt.
In der ersten Projektphase von GUMELAB stehen die folgenden fünf Fallstudien im Mittelpunkt:
Kolumbien
Pablo Escobar, El Patrón del mal (2012)
Narcos (Staffel 1-3, 2015-2017)
Chile
Los 80, más que una moda (2008-2014)
Weiterführende Literatur
Contreras, M. 2017. “Narcotráfico y telenovelas en Colombia: entre narconovelas y «telenovelas de la memoria»” Hispanorama 157: 26–31.
Erlick, J. 2018. Telenovelas in pan-latino context. Nueva York: Routledge.
Rüsen, J. Hg. 1997. „Historisches Erzählen“. In: K. Bergmann et al. (Hg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik. Seelze.Velber: Kallmeyer, 42–44.